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Das deutsche Spiel mit Rußland von der Reichsgründung bis in die Gegenwart,

Dr. Klaus Thörner, Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft II der Universität Oldenburg

 

- 1. Reichsgründung und Bismarck-Ära - 2. 1890-1914: Der Weg in den Krieg - 3. Der Erste Weltkrieg - 4. Weimarer Republik: Rapallo und die geheime deutsch-sowjetische Kooperation - 5. Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion - 6. Gorbatschows Rolle bei der deutschen Wiedervereinigung - 7. Deutschlands Griff nach Rußland seit 1989.
Key words: das deutsche spiel mit rußland von der reichsgründung bis in die gegenwart, klaus thörner, geburtshelfer der deutschen reichsgründung, deutsch- österreichisch- russisches dreikaiserbündnis von 1873, deutscher drang nach osten, deutsche ostsiedlung, abhängiger rohstofflieferant, berliner kongreß, rückversiche- rungsvertrag, pénétration pacifique, bagdadbahn, minderwertige rasse, entscheidungskampf zwischen germanentum und slawentum, mitteleuropa, dekompositionskonzept – unterstützung separatistischer bewegungen, revolutionierung, selbstbestimmungsrecht der völker, brest-litowsk, rapallo, geheime deutsch-sowjetische kooperation – gemeinsames aufrüstungsprogramm, hitler-stalin-pakt, unternehmen barbarossa – ziel: eroberung und kolonisierung rußlands, generalplan ost, rassenideologischer vernichtungskrieg, lebensraum im osten, untermenschen – überflüssige Esser, erdgas- röhren- geschäfte, erdöl, potsdamer abkommen, gorbatschows rolle bei der wiedergeburt deutschlands als großmacht, deutschlands griff nach rußland seit 1989, quasi-koloniale austauschbeziehungen, spielball gegen die USA, frankreich und großbritannien, militärischer deutsch-russischer "großverband".  

1. Reichsgründung und Bismarck-Ära

Mit der kriegerischen Errichtung des deutschen Nationalstaates 1871 verwandelte sich das ehemalige Mündel Preußen zu einer Rußland überlegenen Macht. Dabei stand der russische Zarismus selbst als Geburtshelfer an der Wiege des deutschen Reiches, indem er der deutschen Armee durch die militärische Paralysierung Österreich-Ungarns entscheidende Rückendeckung im Krieg gegen Frankreich gab. Temporäre Vorteile – die Ausschaltung Frankreichs auf dem Balkan, die Eindämmung des deutschen Nationalismus auf die „kleindeutsche Lösung" und das Auftreten der deutschen Reichsführung als antirevolutionärer Ordnungsfaktor in Frankreich – veranlaßten den russischen Zarismus zu einer Anpassung an die neuen deutschen Realitäten. Hinzu kam die auf eine geheime Absprache von 1868 begründete Hoffnung, daß Deutschland sich als Gegenleistung für die Unterstützung bei der Reichsgründung russischen Expansionsabsichten in Südosteuropa nicht entgegenstellen werde – eine Hoffnung die von Bismarck 1878 auf dem Berliner Kongreß bitter enttäuscht wurde.

Im Sommer 1870 erfüllte die russische Regierung ihre Verpflichtung aus dieser Absprache: Sie kündigte für den Fall einer österreichischen Aufrüstung gegen Preußen die Stationierung russischer Truppen an der galizischen Grenze an. Damit begünstigte Rußland den deutschen Sieg über Frankreich und die Reichsgründung in nicht unerheblicher Weise. Ursprüngliches Ziel der russischen Politik in dieser Phase war die Einberufung eines europäischen Kongresses, der den deutsch-französischen Friedensvertrag mitbestimmen, Frankreichs übermäßige ökonomische und territoriale Schwächung verhindern und Rußlands Wunsch nach Aufhebung der Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres berücksichtigen sollte. Da die Kongreßpläne jedoch am Widerstand des deutschen Kanzlers Bismarck scheiterten, begnügte sich die zaristische Regierung mit der Remilitarisierung des Schwarzen Meeres, die sie mit deutscher Unterstützung auf der Londoner Konferenz von 1871 auch zugestanden erhielt (1).

Nach dem Sieg im russisch-türkischen Krieg von 1877/78 erhoffte sich der Zarismus über die angestrebte Gründung eines ihm verbündeten großbulgarischen Staates einen Zugang zum Mittelmeer als Tür nach Europa. Doch in der Pose des „ehrlichen Maklers" widersetzte sich Bismarck diesen russischen Erwartungen und etablierte auf der Berliner Konferenz eine von Deutschland und seinem Juniorpartner Österreich-Ungarn abhängige südosteuropäische Kleinstaatenwelt mit Rumänien, einem zweigeteilten Bulgarien, Serbien, Montenegro und einem von Österreich besetzten Bosnien-Herzegowina.

Die Eigenart der deutsch-russischen Beziehungen besteht seit der Reichsgründung im Gegensatz zwischen zeitweiligen politischen Bündnissen gegen andere Staaten (z.B. Rapallo, Hitler-Stalin-Pakt) und dem permanenten deutschen Versuch, Rußland zu schwächen und es mit friedlichen oder militärischen Mitteln auf den Status eines abhängigen Rohstofflieferanten und Absatzmarktes für deutsche Industrieprodukte zu degradieren. Der „deutsche Drang nach Osten" zur Erringung einer Dominanz- und Kulturträgerschaft in Osteuropa, der sich auf die „deutsche Ostsiedlung" im 10.-12. Jahrhundert berief, konkurrierte seit der Gründung des deutschen Nationalstaates mit russischen Bestrebungen einer Ausdehnung nach Westen.

Die unterstützende Haltung des Zarenreiches gegenüber dem Aufstieg Preußens zur europäischen Führungsmacht resultierte aus der russischen Niederlage im Krimkrieg (1853) und dem folgenden Primat der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Dieser erforderte einen Wandel in den ökonomischen Außenbeziehungen, die mit der Öffnung des russischen Marktes für industrielle Erzeugnisse Westeuropas, mit dem Bahnbau und gesteigerten Getreide-Exporten vollzogen wurde. Die intensivierte Verflechtung mit den europäischen Waren-und Kapitalmärkten führte Rußland in neue Formen ökonomischer Abhängigkeiten. Dabei eroberte sich das durch französische Milliardenzahlungen prosperierende Deutschland einen führenden Platz im russischen Aussenhandel. Es wurde zum wichtigsten wirtschaftlichen Konkurrenten Großbritanniens in Osteuropa und profitierte in besonderer Weise vom russischen Bahnbau. War Großbritannien im Zeitraum 1861-65 noch mit 33% und Preußen mit 25% an der russischen Einfuhr beteiligt, so überflügelte Preußen bzw. der deutsche Zollverein Großbritannien seit Mitte der sechziger Jahre. 1875 im russischen Import. 1875 erreichte der deutsche Anteil 40%, während der britische auf 25% fiel. Großunternehmen wie Krupp und Siemens hatten ihren Aufstieg und ihr Vermögen in beträchtlichem Maße ihren Geschäften mit Rußland zu verdanken. Gleichzeitig wurde Deutschland auf dem Kapitalmarkt zum russischen Hauptgläubiger. Besonders durch Eisenbahnanleihen brachten deutsche Banken Rußland in ihre Abhängigkeit.

Trotz der bereits in den 1870er Jahren offensichtlich werdenden deutsch-russischen Interessensgegensätze gelang es der deutschen Regierung noch bis 1890 Rußland in einem Bündnissystem zu halten. Bismarck setzte nach 1871 alles daran, Bündnisse zwischen Rußland, Frankreich und Österreich-Ungarn zu vermeiden, um bei einer erneuten militärischen Auseinandersetzung mit Frankreich einen Zweifrontenkrieg auszuschließen. Die russische Regierung wandte sich in den 1870er und 1880er Jahren zwar gegen einen erneuten deutschen Überfall auf Frankreich, doch wollte sie sich andererseits ihre außenpolitischen Spielräume nicht durch ein Bündnis mit Frankreich einschränken lassen. Deutschland war ihr dafür zu sehr Stütze im wirtschaftlichen Bereich und bei der Unterdrückung revolutionärer Bewegungen. Aufgrund seiner Expansionspläne in Mittelasien sah der Zarismus seinen größten Gegner in dieser Periode in Großbritannien. Dies motivierte ihn zur Teilnahme am von Bismarck initiierten deutsch-österreichisch-russischen Dreikaiserbündnis von 1873. Der deutschen Regierung ging es dagegen neben der gegen Frankreich gerichteten Zielsetzung um eine gegenseitige Neutralisierung der russischen und österreichischen Expansionsabsichten in Südosteuropa. Das geheime Dreikaiserbündnis verpflichtete Rußland in Ost- und Südosteuropa zu einer Verständigung mit Deutschland und Österreich-Ungarn. Obwohl die Interessengegensätze der drei Monarchien in Südosteuropa 1878 deutlich zutage getreten waren, kam es 1881 und 1884 nochmals zu einer Verlängerung des Dreikaiserbündnisses. Während Rußland auf dessen Grundlage weiter auf wohlwollende deutsche und österreichische Neutralität bei einem Griff auf die Meerengen am Bosporus hoffte, gelang es Deutschland hinter der Fassade des Bündnissystems in den 1880er Jahren durch den Eisenbahnbau von Berlin über Wien, Belgrad und Sofia nach Konstantinopel die Grundlagen für das Bagdadbahnprojekt und die „pénétration pacifique" in Südosteuropa und im Nahen Osten zu legen.

Im Wirtschaftsaustausch zwischen Deutschland und Rußland vollzog sich Mitte der 1880er Jahre ein Bruch. Grund waren wachsende zollpolitische Differenzen. Besonders die deutsche Schwerindustrie, die an einer weiteren Forcierung ihres Exports interessiert war, wandte sich vehement gegen von Rußland erhobene Schutzzölle. Gleichzeitig war Deutschland jedoch zum Schutz seiner Großgrundbesitzer (Junker) nicht bereit, seine Agrarzölle rückgängig zu machen. Für Rußland bildete jedoch der Getreideexport neben den Auslandsanleihen das wichtigste Mittel, um den Staatsbankrott zu vermeiden. Die Verhandlungen wurden 1887 abgebrochen und die Zölle auf beiden Seiten erhöht. Vor diesem Hintergrund sank der deutsche Anteil am russischen Import. Kamen 1875 42% und 1880 sogar 49% des gesamten russischen Importes aus Deutschland, so betrug der deutsche Anteil 1885 39% und 1889 nur noch 33%. Besonders stark war der Rückgang im Bereich der Schwerindustrie. In deutschen Herrschaftskreisen verfestigte sich in der Folge die Auffassung, daß die angestrebte Degradierung Rußlands zum deutschen Rohstofflieferanten nur auf kriegerischem Weg erreicht werden könne. Auf politischer Ebene wurde der offene Bruch 1887 durch den Abschluß des auf drei Jahre befristeten Rückversicherungsvertrages noch einmal vertagt. In diesem Geheimabkommen sicherten sich die beiden Regierungen gegenseitige Neutralität in einem russisch-türkischen und einem deutsch-französischen Krieg zu.

2. 1890-1914: Der Weg in den Krieg

1890 wurde der Rückversicherungsvertrag jedoch nicht mehr verlängert (2). 1891 ging Rußland ein Bündnis mit Frankreich ein. Bereits seit 1888 hatte Rußland größere Anleihen in Frankreich aufgenommen. Das deutsche Kapital konzentrierte sich dagegen auf das Bagdadbahnprojekt und das Aufrüstungsprogramm. Unter der neuen Regierung Caprivi begann die Orientierung auf einen Zweifrontenkrieg gegen Frankreich und Rußland. Die Stellung Deutschlands in der Mitte des Kontinents zwischen Rußland und Frankreich, das russisch-französische Bündnis, das Anwachsen der russischen Bevölkerungszahl und die zunehmende wirtschaftliche Potenz des Zarenreiches galten vielen Deutschen nun als Beweis für die Unvermeidbarkeit eines Krieges gegen Rußland. Die alte, besonders im Adel verbreitete Vorstellung von einer freundschaftlichen Verbundenheit der Dynastien der Romanows und der Hohenzollern (3) wurde durch ein die Gegensätzlichkeit Deutschland und Rußlands betonendes, mit sozialdarwinistischem und völkischen Gedankengut imprägniertes Rußlandbild, das im deutschen Bürgertum schon Jahrzehnte zuvor verbreitet war, abgelöst. Die Furcht vor dem „russischen Koloß" und der seit Napoleons Niederlage lebendige Mythos seiner Unbesiegbarkeit verband sich mit der Geringschätzung Rußlands als „halbasiatische Barbarei" und der Überzeugung der kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Unterlegenheit der Russen, die sie als minderwertige Rasse denunzierte. Der von ihnen angeblich ausgehenden Bedrohung der „germanischen Kultur" sollte rechtzeitig durch einen Präventivkrieg entgegengetreten werden, der zum „Entscheidungskampf zwischen Germanen- und Slawentum" stilisiert wurde.

Auf wirtschaftlicher Ebene entwickelten deutsche Planer in den 1890er Jahren das „Mitteleuropa"-Konzept, ein überstaatlicher Zollverband, mit dessen Hilfe Rußland aus Europa verdrängt und Deutschland sich als Weltmacht gegenüber den USA und Großbritannien behaupten sollte. Erste Grundpfeiler dieses Konzeptes bildeten langfristige Handelsverträge mit günstigen Zollbedingungen die Deutschland zwischen 1890 und 1894 mit Österreich-Ungarn und anderen Staaten Zentral- und Südosteuropas abschloß.

Mit der Gefahr eines deutsch-russischen Krieges unter Beteiligung der jeweiligen Bündnispartner sah sich die Weltöffentlichkeit erstmals 1908 konfrontiert. Widerrechtlich hatte Österreich-Ungarn mit deutscher Unterstützung Bosnien-Herzegowina annektiert. Dagegen protestierte Rußland an der Seite Serbiens auf das Schärfste. Nur auf Einwirken Frankreichs und Großbritanniens verzichtete Rußland auf eine Kriegserklärung und fügte sich dem neuen Status quo. Noch stärker spitzte sich der deutsch-russische Gegensatz infolge der Balkankriege von 1912/13 zu. Der von Rußland unterstützte Balkanbund zwang die Türkei in diesen Kriegen zum Rückzug aus den Gebieten Albaniens und Mazedoniens. Dies führte u. a. zu einer Vergrößerung und Stärkung des serbischen Staates, der sich daraufhin – auf russische Unterstützung vertrauend – selbstbewußt gegen Deutschland und Österreich-Ungarn stellte und die über sein Territorium verlaufenden Eisenbahnlinien verstaatlichte. Damit sah die deutsche Regierung 1913 das Bagdadbahnprojekt und ihre „Mitteleuropa"-Pläne gefährdet und berief den Kriegsrat ein, der die Vorbereitungen für einen Krieg gegen Serbien und Rußland traf (4). Es fehlte nur ein Vorwand. Er fand sich mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo.

3. Der Erste Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg begann mit den Kriegserklärungen Deutschlands und Österreich-Ungarns gegen Serbien und Rußland. Das wesentliche deutsche Kriegsziel formulierte Kanzler Bethmann-Hollweg im „Septemberprogramm" von 1914: „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkbare Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden." Am Ende sollte die Etablierung einer von Deutschland geführten „mitteleuropäischen Zollunion" stehen, in der Frankreich nur als Deutschland untergeordnetes Mitglied geduldet werden sollte. Rußland sollte durch die Ausrufung osteuropäischer „Pufferstaaten" zerstückelt und geschwächt werden. Die deutsche Industrie plädierte für die Durchsetzung einer deutschen Kontrolle über das Baltikum, die Ukraine und den Kaukasus, um den deutschen Rohstoffbedarf für die Zukunft sicherzustellen. Maßgeblich für die deutsche Strategie war das Dekompositionskonzept, das der Baltendeutsche Paul Rohrbach für das Auswärtige Amt entwarf. Danach sollte Rußland wie eine Orange in einzelne Stücke geteilt und der Kern auf die Grenzen der vorpetrinischen Zeit zurückgeworfen werden. Zur Durchsetzung der Abspaltung der westlichen Gebiete Rußlands setzte Deutschland neben der direkten Kriegsführung auf die innere Revolutionierung und die Unterstützung separatistischer Bewegungen. Dabei wurde zunächst vor allem auf in Deutschland lebende Emigranten gesetzt. Im Kaukasus überließ Deutschland die Revolutionierung islamischer Kräfte dem türkischen Bündnispartner, während es in Georgien selbst auf die christliche Bevölkerung einwirkte. Daneben stand die Ukraine im Mittelpunkt des Revolutionierungsprogrammes. Im Baltikum setzten die Deutschen zur Erreichung ihrer Ziele in erster Linie auf die deutsch-baltische Herrschaftsschicht. Dort sollten nach Enteignung und Aussiedlung russischer Grundbesitzer, Letten und Juden 50000 deutsche Bauernhöfe geschaffen werden.

Nach der Besetzung Serbiens (1915) und Rumäniens (1916), mit der Deutschland die Lücken des angestrebten Hegemonialraumes „Mitteleuropa" schloß, der vom Nordkap zum Persischen Golf reichen sollte, strebte die deutsche Regierung die Durchsetzung eines Separatfriedens mit Rußland an, um alle Kräfte für die Krieg an der Westfront zu konzentrieren. Um dies zu erreichen, unterstützte sie die Einsetzung einer russischen Regierung, die unter allen Umständen zu einem Friedensschluß bereit war. Die von Deutschland im April 1917 veranlasste Sendung Lenins aus dem Schweizer Exil nach Rußland war das erfolgreichste Teilstück der Revolutionierungsstrategie. Sofort nach seiner Ankunft am 16. April in St. Petersburg drängte Lenin auf einen russischen Friedensschluß mit den Mittelmächten. In der Kriegsmüdigkeit der russischen Bevölkerung lag die wesentliche Ursache für den Umbruch in Rußland. Daher waren die Bolschewiki auf einen Friedensschluß zur Durchsetzung und Absicherung der Revolution angewiesen. Von deutscher Seite wurden die Bolschewiki kontinuierlich – auch finanziell – unterstützt. Am 27. März 1917 erließ der Petersburger Sowjet seine berühmte Proklamation an die Völker der Erde, in der zu einem Frieden „ohne Annexionen und Kontributionen" auf der Grundlage des „Selbstbestimmungsrechts der Völker" aufgrufen wurde. Diese neue Parole instrumentalisierte Deutschland in den Waffenstillstandsverhandlungen für seine Abspaltungs- und Hegemonialpolitik. Bereits im April 1917 wurde bei einer geheimen Regierungsbesprechung vorgeschlagen, entsprechend der neuen Formel der russischen Revolution für eine Autonomie Polens, Estlands, Litauens und Kurlands einzutreten. Diese autonomen Gebiete sollten frei von russischem Militär sein, wirtschaftlich an Deutschland angeschlossen werden und ihre Verwaltung sollte die Ansiedlungsfreiheit von Deutschrussen garantieren. Generalmajor Hoffmann, Chef des Stabes „Oberost" im Baltikum umriß am 31. Mai 1917 die neue deutsche Doktrin: „Es wäre eine Formel denkbar, nach der Deutschland auf Annexionen verzichtet, Rußland aber in Anerkennung des Grundsatzes von der Freiheit der kleinen Nationen, die jetzt von uns besetzten Länder aus seinem Staatsverband entläßt, damit Deutschland ihre künftige politische Gestaltung regelt." Nach der Oktoberrevolution setzte Deutschland diese Doktrin in den Verhandlungen von Brest-Litowsk durch. Am 3. März 1918 unterschrieb die bolschewistische Regierung unter Protest den Kapitulationsvertrag, in dem unter Berufung auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker" die Abtrennung Polens, Litauens und Kurlands von Rußland bestimmt wurde. Zuvor hatte Deutschland entscheidend zur staatlichen Loslösung der Ukraine von Rußland beigetragen und am 9. Februar 1918 einen separaten Friedensvertrag mit der Ukraine geschlossen. Die Ukraine war für die russische Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Sie erbrachte ein Drittel der landwirtschaftlichen Produktion und 70% der russischen Kohle- und Erzförderung. Doch die deutsche Industrie gab sich mit dem Erreichten noch nicht zufrieden. So forderten die Verbände der Schwerindustrie, daß dem übrigen Ausland die wirtschaftliche Ausbeutung Rußlands erschwert werden sollte, damit Rußland zu einem an Deutschland angelehnten Rohstofflieferanten werde. Besonders interessiert zeigte sich die deutsche Industrie am russischen Erdöl und den Eisenerzen des Kaukasus. Der deutsche Handelstag verlangte, „Rußland durch Oktroyierung entsprechender wirtschaftlicher Verträge zum Ausbeutungsobjekt" zu machen. Um die von deutschen Truppen im Gebiet von Rostow okkupierte Landverbindung zwischen Moskau und dem Kaukasus wiederzuerlangen, sah sich die Sowjetregierung am 27. August 1918 gezwungen, einen solchen Vertrag zu unterzeichnen. Im wirtschaftlichen Zusatzvertrag von Brest-Litowsk verpflichtete sich die russische Regierung, Getreide und Rohstoffe aus dem Kaukasus und dem Kubangebiet zu einem festgesetzten Prozentsatz nach Deutschland zu liefern. Die deutsche Seite wollte sich 50% dieser Erzeugnisse sichern, doch aufgrund der deutschen Kriegsniederlage im November 1918 wurde der Vertrag nicht mehr umgesetzt (5).

4. Weimarer Republik: Rapallo und die geheime deutsch-sowjetische Kooperation

In der Weimarer Republik kam es zu einer von beiden Seiten als „Notgemeinschaft" verstandenen geheimen Kooperation zwischen dem nach einer Revision des „Versailler Diktats" strebenden Deutschland und der auf ausländische Wirtschaftshilfe angewiesenen Sowjetunion. Zwar wußte Lenin, daß „die deutsche Bourgeoisie die Bolschewisten tödlich haßt", doch spekulierte er zurecht auf die Bereitschaft nationaler deutscher Kreise mit Rußland außenpolitisch, militärisch und ökonomisch „gegen Versailles" zusammenzugehen. 1921 sah sich die Sowjetunion nach der gescheiterten Revolution in Deutschland, der vergeblichen Hoffnung auf eine Weltrevolution und aufgrund der verschärften wirtschaftlichen Situation zum Bündnis mit Deutschland gezwungen. Die bolschewistische Regierung setzte jetzt zunächst auf eine Industrialisierung Rußlands und hoffte auf deutsche Unterstützung. Im Herbst 1921 entsandte die deutsche Regierung einen Handelssachverständigen nach Moskau. Bereits im Sommer 1921 traten Offiziere der Reichswehr und der Roten Armee unter strengster Geheimhaltung miteinander in Kontakt. Die geheime Zusammenarbeit zwischen beiden Armeen währte bis 1933. Das Kalkül sah so aus: Die Deutschen halfen der Roten Armee durch die Lieferung von Know-How wieder auf die Beine und setzten sie damit in die Lage, Polen in Schach zu halten bzw. gemeinsam mit der Reichswehr niederzuwerfen, wenn der Tag gekommen sein würde. Zugleich schufen sich die deutschen Militärs auf russischem Boden eine auswärtige Rüstungsbasis und Übungsplätze (ein Geheimlaboratorium), die für einen späteren Krieg von großer Bedeutung sein konnten. Sie umgingen so die im Versailler Vertrag festgelegten Rüstungsbeschränkungen. Zwischen 1922 und 1926 entstanden in der Sowjetunion gemeinsame Fabriken und Erprobungsplätze für chemische Kampfstoffe im Wolgagebiet, für Fliegertruppen in Lipeck und eine Panzerschule bei Kasan. Hunderttausende von Granaten für die Reichswehr wurden u. a. in Leningrad produziert und heimlich über die Ostsee nach Deutschland gebracht. Dieses gemeinsame Aufrüstungsprogramm sahen beide Regierungen durch eine im Frühjahr 1922 nach Genua einberufene gesamteuropäische Konferenz gefährdet, auf der Grundlagen für eine wirtschaftliche Erholung Europas und eine stabile Friedensordnung geschaffen werden sollten. Den Schlüssel sahen die Westmächte im Wiederaufbau und in der Einbeziehung Rußlands. Die Moskauer Regierung befürchtete jedoch unter das Kuratel eines kapitalistischen Konsortiums gestellt zu werden. Deutsche Ostpolitiker fürchteten ihrerseits um die Möglichkeit einer weitergehenden Revisionspolitik gebracht zu werden. Aus diesen Gründen schlossen die beiden Regierungen im benachbarten Rapallo ein Separatabkommen und liessen die gesamteuropäische Konferenz in Genua platzen. Der am 16. April 1922 geschlossenene Rapallo-Vertrag verstärkte in der Weltöffentlichkeit das Mißtrauen gegenüber Deutschland. Rapallo wurde zum Schlagwort für die Sorge Europas vor einem deutsch-russischen Sonderweg, der das Gleichgewicht in Europa in Frage stellte. Vordergründig besiegelte der Vertrag nur die 1920 angebahnte Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion, die gegenseitige Anerkennung der Grenzen, den Verzicht auf Reparationen und die Gewährung des Meistbegünstigungsstatus im Handel. Seine eigentliche Bedeutung erhielt der Vertrag erst durch die ihm folgenden militärischen Geheimabsprachen. Als weitere Folge begann Deutschland seine früher beherrschende Position auf dem russischen Markt zurückzugewinnen. Während der Bedarf an deutschen Investitionsgütern in der ruinierten russischen Wirtschaft unbegrenzt war, verhalfen billige Agrarprodukte und Rohstoffe aus Rußland der deutschen Wirtschaft zum neuen Aufschwung.

1931 erreichte Deutschland einen Anteil von 46% des gesamten sowjetischen Import, während die USA und Großbritannien nur auf jeweils 5% kamen (6). Doch im Zuge der Weltwirtschaftkrise zeigte die deutsch-sowjetische Zweckgemeinschaft erste Risse. Deutschland konzentrierte sich aufgrund seiner Devisenknappheit auf das Vorantreiben des alten Projektes einer „mitteleuropäischen Großraumwirtschaft", indem es vornehmlich den Kleinstaaten in Ost- und Südosteuropa, die sich mit einer noch größeren Wirtschaftskrise konfrontiert sahen, bargeldlose Warenaustauschverträge aufdrängte. Demgegenüber schloß die Sowjetunion 1931 Nichtangriffspakte mit Frankreich und Polen, womit sie die deutsche Seite verärgerte. Nachdem schließlich Deutschland 1933 den Völkerbund verliess, gab die Sowjetunion ihren Beitritt in dieses Gremium bekannt.

5. Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.

Sofort nach dem Machtantritt Hitlers wurden die geheimen deutsch-sowjetischen Militärbeziehungen eingestellt. Im Wirtschaftsbereich vollzog sich der Kurswechsel indes nicht so abrupt. Den ersten Tiefpunkt erreichten die bilateralen Beziehungen 1937/38.

Im Spanischen Bürgerkrieg standen sich erstmals Wehrmachtssoldaten und Rotarmisten gegenüber. Die langfristig gegen die Sowjetunion gerichtete Planung der nationalsozialistischen Regierung hatte Hitler gleich nach Beginn seiner Kanzlerschaft im engen Führungskreis bekanntgegeben, als er die Eroberung von „Lebensraum im Osten" zu einem Hauptziel erhob. Hitlers Verständigung mit den Westmächten in München 1938, die ihm nach dem „Anschluß" Österreichs auch die Tschechoslowakei auslieferte, sah die UdSSR völlig isoliert. Die von der deutschen Regierung unverhohlen gegenüber Polen geäußerte Aggressivität brachte die Sowjetunion in eine Zwangslage. Zwar erklärten Großbritannien und Frankreich bei einer deutschen Niederwerfung Polens Widerstand leisten zu wollen, doch erkannte Stalin, daß ein Eingehen auf die halbherzigen Bündnisangebote Großbritanniens und Frankreichs die UdSSR in einen deutsch-polnischen Konflikt hineinziehen und der Roten Armee die Hauptlast des Kampfes aufbürden würde, ohne jede Aussicht auf eine „Belohnung". Stalin sah die akute Gefahr und warf das Steuer seiner Deutschlandpolitik um. Er schloß zur Überraschung und Bestürzung der Weltöffentlichkeit einen Nichtangriffspakt mit Deutschland, der der deutschen Regierung die Möglichkeit bot, den Krieg gegen Polen zu führen. Nur konnte sie jetzt – mit der Sowjetunion „verbündet" – nach der Niederwerfung Polens den weiteren Vorstoß nicht, wie ursprünglich beabsichtigt, gegen die UdSSR richten, sondern mußte ihn gegen Westen unternehmen. Der Paukenschlag des Hitler-Stalin-Paktes nahm die alte antipolnische Gemeinsamkeit der zwanziger Jahre wieder auf. Am 24. August 1939 unterzeichneten die beiden Außenminister Ribbentrop und Molotov den Pakt in Moskau. Er bestand aus zwei Schriftstücken. Das erste, der eigentliche Nichtangriffspakt, enthielt die Abmachung, daß beide Vertragsparteien, falls eine von ihnen in einen Krieg verwickelt werde, sich verpflichteten, dem Gegner keine Hilfe zu leisten und sich auch nicht an einer Kräftegruppierung zu beteiligen, die sich mittelbar oder unmittelbar gegen den Vertragspartner richte. Das zweite Schriftstück war ein geheimes Zusatzprotokoll, worin Deutschland und die Sowjetunion ihre Interessen und Einflußsphären aufteilten: Finnland, Estland und Lettland sollten zur sowjetischen, Litauen zur deutschen Sphäre gehören; die Teilung Polens sollte entlang der Flüsse Narew, Weichsel und San erfolgen; die rumänische Provinz Bessarabien wurde als zum sowjetischen Interessengebiet gehörend bezeichnet. Stalin glaubte vorauszusehen, daß sich die Deutschen, Franzosen und Engländer in einem vermutlich jahrelangen Krieg erschöpfen würden und nach den Erfahrungen von 1914-1918 in allen am Krieg beteiligten Ländern mit der physischen und seelischen Erschöpfung die „revolutionäre Situation" eintreten müsse, derer der Kommunismus bedurfte – dies aber würde die historische Stunde für die militärische Intervention der Sowjetunion sein.

Für die Deutschen ging es beim Hitler-Stalin-Pakt nur um eine Etappe auf dem Weg, dessen Ziel unverändert die Eroberung und Kolonisierung Rußlands war. Stalin erreichte zwar die Wiederherstellung der Vorkriegsgrenze des russischen Reiches und gewann durch seine Zurückhaltung auf militärischem Gebiet wertvolle Zeit, aber sein Bemühen um eine gleichwertige Partnerschaft mit Hitler bei der „Neuordnung Europas" führte ihn ein Jahr später in die Isolation. Schon der erste Lichtblick eines Sieges in Westeuropa mobilisierte den deutschen Generalstab, die Planung eines Überfalls auf die UdSSR in Angriff zu nehmen. Das Unternehmen erhielt den Decknamen „Barbarossa". Die nationalsozialistische Regierung sah sich somit als Erbe der mittelalterlichen „Ostlandreiter". Sie nahm den 1918 gestoppten Eroberungskrieg gegen Rußland wieder auf und steigerte ihn zum rassenideologischen Vernichtungskrieg.

Der Überfall des 22. Juni 1941, mit dem die deutsche Wehrmacht die Westgrenze der UdSSR auf ihrer ganzen Länge von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer überschritt, führte zu einer tiefen Ernüchterung des Deutschlandbildes der sowjetischen Bevölkerung. Begriffe wie „Wortbruch" oder „Verrat" verknüpfte sie in der Nachkriegszeit eng mit dem Namen Deutschland.

Die deutschen Kriegspläne zielten auf eine Expansion des „Großdeutschen Reiches" bis zum Ural zur Eroberung neuen „Lebensraumes" für die „arische Rasse", auf die Vernichtung des Bolschewismus und des Judentums und auf die Aneignung der sowjetischen Ressourcen zur Sicherung der wirtschaftlichen Autarkie des vergrößerten deutschen Staates. Da diese Ziele verfestigten Feindbildern der Deutschen entsprachen und handfeste Vorteile für die Zukunft verhießen, stiessen sie in der deutschen Bevölkerung auf breite Zustimmung. Diese Ziele implizierten die Degradierung der sowjetischen Einwohner zu recht- und bildungslosen Arbeitssklaven und den Hungertod oder die Vertreibung aller derjenigen, die für die Deutschen keinen Wert mehr hatten. Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg zeigte sich die deutsche Regierung nicht an der Bildung „autonomer" Staaten im Baltikum und in der Ukraine interessiert. Sie zog es vor, das besetzte Gebiet in kleinere, leichter zu beherrschende und auszubeutende Teile zu zerlegen, um sie später einschließlich der Krim als „Gotenland" zu annektieren. Mit der Kolonisierung dieses Raumes wurde bereits während des Krieges auf Grundlage des von Himmler in Auftrag gegebenen „Generalplan Ost" begonnen (7). Vorgesehen wurde die Errichtung von deutschen Siedlungsstützpunkten und „Marken" entlang der Verkehrslinien, die durch den „Lebensraum" gezogen werden sollten. Teil dieses gigantischen und über Jahrzehnte angelegten Programmes war die physische Dezimierung oder Vertreibung des „rassisch" unerwünschten oder nicht als Arbeitskräfte benötigten Teils der einheimischen Bevölkerung. Konzessionen an die russische und ukrainische Bevölkerung sahen die deutschen Besatzer als überflüssig oder sogar als schädlich an. Slawen galten ihnen als „Untermenschen", die, so Hitler, „größtenteils wie Tiere zu leben und behandelt zu werden gewohnt sind". In der deutschen Hierarchie der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen standen die Russen auf der untersten Stufen und wurden am unmenschlichsten behandelt.

Die Planung der deutschen Besatzer sah den Hungertod von „mehreren zehn Millionen Menschen vor, die als „überflüssige Esser" definiert wurden. An ihrer Stelle sollte schon in Kürze die Ernährung der gesamten deutschen Wehrmacht aus der Sowjetunion gewährleistet werden. Allein zwischen November 1941 und Januar 1942 verhungerten 400.000 der zu diesem Zeitpunkt gemeldeten sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern. Erst nach dem Scheitern der deutschen Blitzkriegsstrategie im Winter 1941/42 und der daraus folgenden Planung zur Ausnutzung sowjetischer Arbeitskräfte für die deutsche Kriegsindustrie wurde eine minimale Versorgung der Bevölkerung angeordnet. Aus den besetzten Gebieten wurden mehr als drei Millionen Zivilisten und hunderttausende sowjetsche Kriegsgefangene zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert.

Deutsches Kriegsziel in der Sowjetunion war nicht nur die Eroberung neuen „Lebensraums" für deutsche und „germanische" Siedler, sondern auch die Übernahme der großen wirtschaftlichen Werte des westlichen Teils der Sowjetunion, insbesondere der Ukraine. Rohstoffe und Agrarprodukte, deren Erzeugung die deutsche Besatzung noch steigern zu können glaubte, sollten Deutschland blockadefest und von überseeischen Kolonien unabhängig machen. Gleichzeitig war die Entindustrialisierung der Sowjetunion vorgesehen.

Die deutschen Kriegspläne scheiterten trotz des Vordringens bis nach Stalingrad und in den Nordkaukasus. Moskau und Leningrad konnten nicht erobert und die sowjetischen Erdölvorkommen nicht für eigene Zwecke ausgebeutet werden.

Auf den zunehmenden Widerstand von Partisaneneinheiten reagierten die Deutschen mit Massenerschießungen von Zivilisten und dem Niederbrennen ganzer Dörfer. Nach der Niederlage von Stalingrad zogen sich die Besatzer mit Evakuierungen der Einwohner, wilden Plündereien und einer Politik der „verbrannten Erde" zurück.

Diese Vernichtungspolitik führte dazu, daß die Sowjetbevölkerung diesen Krieg nicht primär als Auseinandersetzung mit dem Faschismus, sondern mehrheitlich als Überlebenskampf gegen Deutschland auffaßten. Die Zahl der sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkrieges wird heute auf 25-30 Millionen Menschen geschätzt. Damit verlor die Sowjetunion jeden siebten Einwohner, kein anderes Land erlitt im Zweiten Weltkrieg höhere Menschenverluste.

6. Gorbatschows Rolle bei der deutschen Wiedervereinigung

Wirtschaftliche Schwierigkeiten der Sowjetunion und der Machtantritt des „Antifaschisten" Willy Brandt führten die Moskauer Regierung Anfang der 70er Jahre zu einer Wiederannäherung an die Bundesrepublik Deutschland. Am 12. August 1970 wurde in Moskau der deutsch-sowjetische Vertrag über den Gewaltverzicht unterzeichnet. Beide Seiten verpflichteten sich, keine Gewalt in den bilateralen Beziehungen anzuwenden und „die territoriale Integrität aller Staaten in Europa in ihren heutigen Grenzen" uneingeschränkt anzuerkennen. In einem Zusatzprotokoll liess sich die BRD jedoch die Möglichkeit einer Wiedervereinigung zusichern. Ebenfalls 1970 unterzeichneten die beiden Regierungen das erste von mehreren Wirtschaftsabkommen, die unter anderem die Lieferung von russischen Erdgas als Gegenleistung für deutsche Röhren zum Bau von Erdgasleitungen und Kredite vorsahen. Der Grundstein für eine neue wirtschaftliche Abhängigkeit der Sowjetunion von Deutschland war gelegt. In der Ära der Entspannung erfolgte eine Rückkehr zu den traditionellen, bilateralen, quasi-kolonialen Wirtschaftsbeziehungen (Rohstoffe gegen Industrieprodukte und Kredite), deren Unterbrechung in der Anfangszeit des Kalten Krieges nach 1945 eine Abweichung von der Norm gewesen war. Die Sowjetunion hatte auf internationaler Ebene im wesentlichen nur zwei Produkte anzubieten: Erdöl und Erdgas. Sie erzielte 80% ihrer Deviseneinnahmen aus Energieexporten nach Westeuropa, allein 60% mit Erdöllieferungen.

Nach dem Fall der Berliner Mauer gab es von sowjetischer Seite nur sporadische Versuche, die Vier-Mächte-Verantwortung wiederzubeleben, auf die Großbritannien und Frankreich zurückhaltend und die USA mit noch größerer Zurückhaltung reagierten. Die BRD wehrte sich gegen die Einberufung einer Friedenskonferenz, die nach dem Potsdamer Abkommen eigentlich erforderlich gewesen wäre, und liess sich nur auf 2+4-Verhandlungen zu ihren Bedingungen ein.

M. Gorbatschow. Crédits: Pierre Verluise

Noch Ende Januar 1990 forderte Gorbatschow, ein vereinigtes Deutschland müsse entmilitarisiert werden und aus der NATO austreten. Doch im Februar 1990 reiste der deutsche Kanzler Kohl nach Moskau und versprach dort die Zahlung deutscher Lebensmittelhilfen in Höhe von 220 Millionen DM. Daneben liess sich Gorbatschow von Kohl die Zusicherung geben, daß sich ein künftiges wiedervereinigtes Deutschland nicht gegen sowjetische Interessen stellen werde. Im Mai 1990 gewährte die BRD der UdSSR einen 5 Mrd. DM-Kredit. Mitte Juli akzeptierte Gorbatschow daraufhin bei einem erneuten Besuch von Kohl in der Sowjetunion auch die NATO-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands. In westlichen Staaten wurden die Vereinbarungen Gorbatschows mit Kohl mit dem „Rapallo-Vertrag" verglichen. Offensichtlich bettelte die sowjetische Führung um wirtschaftliche Zugeständnisse der deutschen Regierung als Gegenleistung für die Bereitschaft, die Wiedervereinigung nach westdeutschen Vorstellungen zu akzeptieren – ein Arrangement, das ein langfristiges deutsches Engagement in Rußland gewährleisten sollte, Deutschland aber die Möglichkeit bot, nach dem Kollaps des Realsozialismus eine führende Rolle in der Gestaltung bzw. Umstrukturierung der russischen Wirtschaft einzunehmen. Auf dieser Grundlage stimmte die sowjetische Regierung der Wiedervereinigung und der Einverleibung Ostdeutschlands in die NATO zu. So waren Gorbatschow und sein Außenminister Schewardnadse, die beim Zusammenbruch der UdSSR die sowjetische Politik bestimmten, mitentscheidend an der Wiedergeburt Deutschlands als Großmacht beteiligt und banden Rußland gleichzeitig in eine langfristige wirtschaftliche Abhängigkeit gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner (8). Die UdSSR, die ihre Schulden nicht mehr bedienen konnte, erwartete von Deutschland weitere Kredite und langfristige finanzielle Hilfen. Für den sowjetischen Truppenrückzug zahlte Deutschland eine Summe von mehr als 12 Mrd. DM und gewährte der Sowjetunion darüber hinaus im Herbst 1990 einen zinslosen Drei-Milliarden-Kredit. Am 12. September 1990 stimmte die Sowjetregierung der gänzlichen Aufhebung der Viermächterechte zu. Am 13. September 1990 wurde der sowjetisch-deutsche Vertrag über gute Nachbarschaft von den beiden Außenministern paraphiert. Am 3. Oktober 1990 vollzog sich die Wiedervereinigung. Am 9. November 1990 schloß die Regierung des wiedervereinigten Deutschlands bei einem Besuch Gorbatschows den „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit" mit der UdSSR, der auf eine Dauer von zwanzig Jahren ausgelegt ist. Geplant wurden eine Zusammenarbeit auf vielen staatlichen und nichtstaatlichen Ebenen, unter besonderer Berücksichtigung zwischenmenschlicher Begegnungen sowie Konsultationen bei allen internationalen Krisen. Ein zweiter Vertrag wurde über eine umfassende Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik geschlossen. Er verpflichtete beide Seiten, den bilateralen Handel zu verstärken. Doch de facto hatte die Sowjetunion nichts in der Hand. Solange sich ihre Truppen noch in Deutschland befanden, verfügte sie diesem gegenüber noch über gewisse Druckmittel, nach deren Abzug blieb der russischen Seite nur noch die Hoffnung, daß Deutschland seine vagen Absichtserklärungen über Hilfeleistungen und Handelserweiterungen erfüllen werde.

7. Deutschlands Griff nach Rußland seit 1989

Seit 1990 vergrößerte sich der Einfluß Deutschlands in Rußland in bedeutendem Maße gegenüber der Zeit seiner begrenzten Souveränität von 1945-1989. Frei von der Kontrolle der alliierten Besatzungsmächte hat Deutschland seither wieder freie Hand, seine expansiven Interessen in Osteuropa durchzusetzen. Nahezu unbemerkt erreichte Deutschland im Zuge der 1991 erfolgten Auflösung der Sowjetunion seine Ziele des Ersten Weltkrieges und weit mehr als der Vertrag von Brest-Litowsk beinhaltete: Die staatliche Loslösung der baltischen Länder, der Ukraine und des Kaukasusgebietes von Rußland.

1992 erlangte Deutschland wieder die führende Stellung im russischen Handel, eine Position die es seit 1972 bereits als wichtigster Westhandelspartner der UdSSR innehatte. Den Gefahren und Risiken, die ihm als Hauptgläubiger nach der Auflösung der Sowjetunion durch einen russischen Staatsbankrott drohten, begegnete Deutschland erfolgreich durch Druck auf andere Staaten und internationale Finanzorganisationen, die es zur Beteiligung an einer Stabilisierung Rußlands aufforderte. So erhielt Rußland noch 1991 den Status eines assoziierten Mitglieds des IWF und der Weltbank. Im April 1992 gewährte die G7 – auf Drängen Deutschlands – einen 24-Milliarden-Dollar-Kredit an Rußland. Gleichzeitig beschloß die G7 eine Umschuldung, wodurch Rußland die Möglichkeit erhielt, seine 1992 und 1993 fälligen Schulden erst im Laufe der nächsten zehn Jahre zurückzuzahlen. Dies war wichtig für Deutschland, bei dem Rußland mit der Hälfte seiner gesamten Auslandsschulden, etwa vierzig Milliarden US-Dollar in der Kreide stand. 1994 beschloß der G7-Gipfel erneut, Rußlands Kredite umzuschulden; 1995 und 1996 erhielt Rußland vom IWF Kredite von sechs und zehn Milliarden US-Dollar – Deutschland hatte noch höhrere Summen gefordert. Diese Umschuldungs- und Kreditpolitik wird bis heute fortgesetzt.

Der Charakter des deutsch-russischen Handels nahm in den 90er Jahren wieder die Form der quasi-kolonialen Austauschbeziehungen aus der Zeit von der Reichsgründung bis zum Zweiten Weltkrieg an: Den Hauptteil der deutschen Einfuhren bildeten Rohstoffe, vor allem Erdöl und Erdgas, und den Hauptteil der deutschen Ausfuhren stellten Fertigerzeugnisse. Bereits 1990 bezog Deutschland vierzig Prozent seines Erdgases aus Rußland. Die regierungsnahe Zeitung Rossiskaja gaseta klagte über die „sklavische Abhängigkeit von der Ruhrgas AG", die nahezu ein Monopol auf das sowjetisch-deutsche Gasgeschäft hatte.

Aktuell ist Deutschland nach wie vor die Nr. 1 im weltweiten Handel mit Rußland. So belegte Deutschland z. B. 1999 unter den internationalen Investoren in Rußland mit 6,5 Mrd. US-Dollar den ersten Platz, gefolgt von den USA mit 5,8 Mrd., Großbritannien mit 3,7 Mrd. und Frankreich mit 3,3 Mrd. Umgekehrt rangiert Rußland in der Länderstatistik des deutschen Osteuropahandels deutlich hinter Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik, auf die etwa 75% der deutschen Kapitalanlagen in Osteuropa entfallen.. Dies verdeutlicht, daß sich Deutschland im Konkurrenzkampf mit den USA, Frankreich und Großbritannien zunächst auf die Durchsetzung eines von ihm dominierten „mitteleuropäischen Großwirtschaftsraumes" konzentriert. Dabei minimiert Deutschland einerseits den russischen Einfluß auf Europa, hat Rußland aber andererseits wirtschaftlich in der Hand und kann dessen Rohstoff- und Militärpotential gegebenenfalls als Spielball gegen die USA, Frankreich und Großbritannien einsetzen. Im September 2001 ernannte das Berliner Verteidigungsministerium Rußland zum „strategischen Partner" Deutschlands. Da Rußland „an den wirtschaftlich zukunftsträchtigen kaspischen Raum" grenze, als Atommacht noch immer über rund 15.000 strategische und taktische Nuklearwaffen" verfüge und als internationale Macht von großer Bedeutung sei, hält die deutsche Regierung „eine stärkere regionale militärische Kooperation" mit Rußland für unerläßlich. Bereits heute unterstütze Deutschland das russische Militär „mit Rat und Tat", biete „vielfältige Ausbildungshilfe" an und führe „sicherheitspolitische Konsultationen durch". Diese Zusammenarbeit solle noch durch gemeinsame „Übungen" deutscher und russischer Militäreinheiten vertieft werden. Als mittelfristiges Ziel dieser militärischen Kooperation plant die deutsche Regierung den Aufbau „eines nordosteuropäischen Großverbandes für Krisenmanagementeinsätze"(9). Mithilfe dieses deutsch-russischen „Großverbandes" könnte es Deutschland langfristig gelingen, sich militärpolitisch von den USA, Frankreich und Großbritannien zu lösen.

Klaus Thörner

(1) Vgl. Beyrau, Dietrich, Der deutsche Komplex: Rußland zur Zeit der Reichsgründung, in: Europa und die Reichsgründung, (Hg.) Kolb, Eberhard, Beiheft 60/Neue Folge, Historische Zeitschrift, München 1980, S. 63-108.

(2) Vgl. Kumpf-Korfes, Sigrid, Bismarck`s Draht nach Rußland. Zum Problem der sozial-ökonomischen Hintergründe der russisch-deutschen Entfremdung im Zeitraum von 1878 bis 1891, Berlin 1968.

(3) Die intensive Zusammenarbeit zwischen dem russischen und deutschen Adel, die dem deutschen Einfluß in Rußland den Weg ebnete, begann zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als Peter der Große Deutsche nach Rußland anwarb, um mit ihrer Hilfe die Wirtschaft zu entwickeln. Noch stärker war Katharina die Große von der Notwendigkeit überzeugt, Deutsche zu „importieren" um Rußland zu modernisieren. Sie gründete an der Wolga eine große Kolonie deutscher Einwanderer, um Rußlands Landwirtschaft zu rnodernisieren. Das Haus der Romanows war mit dem deutschen Adel verwandtschaftlich verbunden. Katharina die Große war selbst deutscher Herkunft ebenso wie die letzte Zarin, Alexandra Fjodorowa. Nachdem sich Rußland im 18. Jahrhundert das Baltikum einverleibt hatte, spielte der baltendeutsche Adel, gemessen am Anteil der baltischen Bevölkerung eine unverhältnismäßig große Rolle in der Verwaltung des russischen Imperiums. Etwa ein Drittel der hohen Regierungsbeamten waren zu einer Zeit, in der Deutsche etwa ein Prozent der Bevölkerung Rußlands ausmachten, deutscher Herkunft.

(4) Vgl. Fischer, Fritz, Krieg der Illusionen. Die deutsche Politik von 1911 bis 1914, Düsseldorf 1969.

(5) Vgl. Fischer, Fritz, Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, Düsseldorf 1977.

(6) Vgl. Hartl, Hans/Marx, Werner, Fünfzig Jahre sowjetische Deutschlandpolitik, Boppard am Rhein 1967; Museum Berlin-Karlshorst (Hg), Redaktion: Ingrid Damerow/Peter Jahn, Erinnerung an einen Krieg, Berlin 1997.

(7) Vgl. Rössler, Mechtild/Schleiermacher, Sabine (Hg.) Der „Generalplan Ost". Hauptlinien der nationalsozialistischen Planungs- und Vernichtungspolitik, Berlin 1993.

(8) Vgl. Stent, Angela, Rivalen des Jahrhunderts. Deutschland und Rußland im neuen Europa, Berlin/München 2000 (engl. Erstausgabe: Russia and Germany Reborn, New Jersey 1999).

(9) Vgl. Scharping, Rudolf, Die Zukunft Europas mit Russland gestalten. Der Westen muss der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit mit Moskau neue Impulse geben, Süddeutsche Zeitung 29.30.9.2001.

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Dr. Klaus Thörner, Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft II der Universität Oldenburg

   
    . Geboren am 29. März 1964 in Oldenburg (Niedersachsen), Deutschland.

. 1985-1991: Studium der Diplom Pädagogik an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.

. 1988-1994: Studium der Diplom Sozialwissenschaften an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.

. Seit 1995, Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft II der Universität Oldenburg mit den Themengebieten, "Deutsche Ost- und Südosteuropapolitik in Geschichte und Gegenwart und Deutscher Antisemitismus".

. Februar 2000, Abschluß der Promotion zum Dr. rer. pol. mit dem Thema "Deutsche Südosteuropakonzepte von 1840-1945".

. Seit 2001, Mitarbeiter der Internetredaktion: www.german-foreign-policy.com

Co-Autor der Bücher:

. "Der Fall Jugoslawien", Hamburg, 1997.

. "Goldhagen und die deutsche Linke", Berlin, 1997.

. "Nie wieder Krieg ohne uns. Das Kosovo und die neue deutsche Geopolitik", Hamburg, 1999.

   
         

 

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